Das Leben einer Pflegerin ist wie das Leben jedes anderen Menschen. Es ist ein Job wie jeder andere auch. Man steht morgens auf, zieht sich an und beklagt sich erstmal ein wenig, warum so früh, warum an einem Feiertag, warum am Samstag oder Sonntag. Man kommt in die Arbeit und muss eine Million Dinge erledigen, wie in jedem anderen Job. Eine Kollegin oder ein Kunde geht einem auf den Keks, wie an den meisten Arbeitsplätzen. Man ist froh, wenn man endlich nach Hause kommt und zu Abend essen kann. Wie in jedem anderen Job halt auch. Oder nicht? Hier ist es doch anders.
Diese Arbeit und die Arbeitsumgebung werden von Menschen gestaltet. Von Menschen mit Falten, weißen Haaren und Gesundheitsproblemen. Es sind Menschen, die vor ein paar Jahren noch jung und voller Leben waren. Sie hatten ihre Träume, Wünsche, Herausforderungen, Ziele und Vorstellungen. Sie freuten sich über Erfolge und weinten über Verluste. Sie lachten mit ihren Kindern und umarmten sie, wenn sie auf eine Geschäftsreise gehen mussten. Sie lebten mit ihrer Familie und begegneten den alltäglichen Problemen ihrer Welt. Heute sind sie hier, in einem Sozialheim, das so anders als ihr Zuhause ist. Dafür sind wir da. Die Pflegerinnen – ihre Ersatzfamilie. Wenn ich von Zimmer zu Zimmer gehe, stelle ich mir vor, was die Menschen wohl alles erlebten, welche Erinnerungen sie haben und ob sie ihre Lebensträume verwirklichen konnten. Ich versuche, für sie da zu sein und sie nicht bloß als Kunden zu sehen, sondern als Menschen, die Hilfe brauchen. Menschen, die aus irgendeinem Grund die Wärme ihres Zuhauses verlassen mussten. An Feiertagen versuche ich deshalb, die entsprechende Atmosphäre für sie zu schaffen. Ich erinnere mich, wie wir uns am Ostermontag mit Wasser bespritzten. Wir tanzten, sangen und hatten viel Freude dabei. Ich erinnere mich an Heiligabend, als wir den Weihnachtsbaum mit ihren selbst gebastelten Schmuck dekorierten und über unsere Familienbräuche und Traditionen sprachen. Wie Grundschulkinder ins Heim kamen und für ein schönes Erlebnis der Kunden sorgten. Sie erinnerten sich an ihre Kindheit und an Lieder, die sie zu Hause gesungen hatten. Ich weiß noch, wie ich meinen Hund an einem Sporttag in die Arbeit brachte, damit die Kunden mit ihm spielen konnten. Doch es war nicht immer nur schön und fröhlich. Ich erlebte auch traurige Momente. Die in einem etwas hinterlassen, was sich nicht mit Worten beschreiben lässt. Oft war ich eine Vertraute für die Menschen, der sie ihre Lebensgeschichten beichteten – so manches mal ging ich mit Tränen davon. Die Geschichten, die ich erlebte, könnte kein Schriftsteller oder Drehbuchautor erfinden. Zum Beispiel wie ich eine Kundin – und Freundin – sterben sah und hoffte, dass sie im Jenseits besser drauf sein würde. Man lebt mit diesen Menschen wirklich zusammen. Einerseits fürchtet man sich vor allzu großer Anteilnahme, denn man ist sich bewusst, ihnen bleibt nicht viel Zeit übrig. Andererseits weiß man, dass diese Arbeit ohne Mitgefühl nicht getan werden kann. Nächstes Jahr werde ich 60 Jahre alt. Womöglich sagen Sie sich, dass ich über mich selbst schreiben könnte. Vielleicht deshalb kann ich mich in meine Kunden hineinversetzen und sie verstehen. Ich bedauere nur, dass ich den Entschluss, als Pflegerin zu arbeiten, erst mit 50 und nicht früher fasste. Und trotzdem, oder gerade deshalb, gehe ich auch sonntags und auch an einem Feiertag zur Arbeit und beklage mich nur leise und nicht laut. Damit die Menschen, die für ihre Welt so viel bedeutet hatten, meine Worte nicht hören können.